Die Matildas haben es geschafft: Innerhalb von vier Wochen zogen sie einen ganzen Kontinent in ihren Bann und entfachten in Australien ein generationenübergreifendes Fussballfieber. Es ist eine Euphorie, die selten so zu spüren ist – vor allem, da die Aussies dem schönsten Spiel der Welt nicht den Stempel «Lieblingssport» aufdrücken.
Tatsächlich, der Fussball erfreut sich sehr hoher aktiver Beteiligung, doch die Herzen der Sportfans Down Under schlagen für Cricket, Rugby und Aussie Rules Football. Die Frauenfussball-Weltmeisterschaft direkt vor der Haustür erschuf ein völlig neues Bild:
Ganze australische Haushalte wurden ins Stadion oder vor den Fernseher gelockt und viel Jubel begleitete das Volk durch den Winter. Andere Sportanlässe pausierten, damit ja niemand das dramatische Penaltyschiessen gegen Frankreich verpasste, und der Taxifahrer diskutierte angeregt über die Genialität von Sam Kerr.
Sieben Geschichten aus Down Under zeigen, wie vielfältig die Matildas-Mania in ihrer Heimat eingeschlagen hat:
Schuluniformen weichen Grün-Gold

Es überrollte eine grün-goldene Welle die ansonsten so strikte Uniformenregelung des öffentlichen Schulwesens. Per Elternbrief wandte sich die Leitung der Lake Illawarra South Public School südlich von Sidney an ihre Schülerschaft, am kommenden Montag – dem Tag des Achtelfinals – in den Matildas-Farben Grün und Gold zu erscheinen.
Mit diesem «Green and Gold Day» stellte sich die Schule, wie bereits die Regierung des Staates New South Wales, hinter die Matildas und ihre ehemalige Schülerin, Starstürmerin Caitlin Foord.
Als «kostenloser Event» deklariert: Auch Caitlin Foords Nichten und Neffen durften die blaue Uniform für einmal zu Hause lassen. (instagram.com)
«Die Leute haben einfach nur ‹danke› gesagt»
Schöne Anekdoten erzählen die Spielerinnen selbst. Einerseits berichten Stürmerin Sam Kerr und Goalie Mackenzie Arnold, wie ihnen die Leute auf der Strasse begegnen: «Sie gratulierten uns nicht, sondern bedankten sich einfach.»
Selbstverständlich ist der vierte Platz an der WM für die Matildas nämlich nicht, und die Fans sind sich bewusst, wie der Frauensport in Australien dank dieser Leistung im Umbruch ist.
Andererseits wurde eine Spielerin von einem Uberfahrer angesprochen: «Hast du das Spiel gesehen?» Woraufhin sie fragte: «Welches Spiel?» – «Na die Matildas!» Dabei erfreute sie die Wortwahl, da der Fahrer ganz natürlich vom «Spiel» sprach, ohne – wie oft üblich – dessen Frauenbeteiligung extra hervorzuheben.
Bastelanleitung statt Trikot
Das australische Matildas-Herz schlägt in Grün und Gold. Ganze Städte waren in diese Farben getaucht, Bürolisten schmückten ihren Schreibtisch mit Girlanden und Ladenverkäufer steckten sich die Landesflagge als Pin an die Kleidung. «Come on Tillies» oder «Tillies ‘til I die» war in den Schaufenstern zu lesen.
Die Aussies wollten sich mit passenden Trikots ausrüsten, sahen sich aber gezwungen, auf etwas kreativere Fanartikel auszuweichen. Es wurden so viele Trikots verkauft wie noch nie, eine Männer-WM inklusive. Dafür waren die Hersteller nicht gewappnet, und so publizierte eine Zeitung eine Anleitung, wie man selbst Fanutensilien bastelt.


Kneif mich mal: Die 1.69 Meter grosse Caitlin Foord auf dem Wolkenkratzer ihrer Heimat. Daneben die 20-jährige Mary Fowler, über unzählige Etagen projiziert.
Tillies im Wohnzimmer
Auf seiner abendlichen Liefertour fuhr ein Kurier durch urbane Wohnquartiere, um die Pizzawünsche seiner Kunden zu erfüllen. Völlig baff berichtete er von all den Fenstern und Türen, an denen er vorbeizog und durch die er Fernsehbildschirme erspähte. Darüber flimmerte ausnahmslos eine Partie der Matildas. Selbst die Bars und Pubs zeigten die WM. So konnte der Lieferant das Fussballspiel praktisch live mitverfolgen.

Umschwung in der Fankultur
Für Einheimische schön zu sehen ist – wie oftmals hervorgehoben – die neuartige Fankultur, die den Frauenfussball umgibt. Gewöhnt sei man sich bei australischen Sportanlässen Glücksspiel und Gewalt unter Alkoholeinfluss auf den Zuschauerrängen oder in Bars.

Der familiäre und nahbare Umgang im Frauenfussball erreicht Australien, und ein Wandel in der Fankultur findet statt. Familien besuchen die Partien, kleine Kinder himmeln die Spielerinnen an, und ein friedliches Verhalten ist vorherrschend.
Errungenschaften in Bronze verewigt
Wenn es heisst, «die Euphorie ist grenzenlos», dann meint man wirklich absolut «ohne Grenzen». So haben die Matildas im Falle von Queenslands Premierministerin Annastacia Palaszczuk gar einen Megafan gewonnen – und diese hat grosse Pläne. Während die australische Nati die Bronzemedaille an der WM verpasste, versprach Palaszczuk eine Statue für eben dieses Team aus eben diesem Metall.
Als Sujet diene der Schnappschuss neun jubelnder Spielerinnen nach dem zwanzigsten und siegbringenden Penalty gegen Frankreich, der Australien in seinen ersten WM-Halbfinal katapultierte.
Bild 1: Captain Sam Kerr mit Queenslands Premierministerin Annastacia Palaszczuk und deren vorgeschlagenem Sujet – über ein endgültiges, passendes Motiv wird diskutiert.
Bild 2: Suncorp Stadium in Brisbane: Die Statue soll weibliche als auch fussballerische Repräsentation neben Rugbystars wie Wally Lewis und John Eales an den Standort bringen.
Das ruft Kontroversen hervor: Seitens des Volks tönt es nach «over the top» und Sportlerkollegen halten das Denkmal für ungerechtfertigt. «Die Matildas waren gut… Statue? Nein. Gold oder ein erster Platz sind dessen würdig», äusserst sich Ex-Basketballprofi Andrew Bogut auf Twitter.
Tennisspieler Nick Kyrgios ergänzt: «Einverstanden. Grossartige Leistung! Eine Statue für den vierten Platz ist verrückt, aber sie (die Matildas) haben uns alle in ihren Bann gezogen. Nächstes Mal.»
Mit visuellen Andenken werden die Errungenschaften der Matildas für die nächsten Generationen greifbar. Ihnen wurde bereits der Schlüssel für die Stadt Brisbane übergeben, und das Team soll ausserhalb des Stadium Australia in Sidney mit einem grossen Wandgemälde geehrt werden.
Die Regierung von Queensland versprach neben der Statue – wobei eine einzelne Bronzefigur mehr als 150’000 Dollar kosten kann – eine Investition von 37 Millionen Dollar in den Frauensport.
Eine sagenhafte Rechnung
Die Medien warfen mit Zahlen, Werten und nummerischen Analysen um sich, damit die geschichtsträchtige Bedeutung der Weltmeisterschaft ausreichend zur Geltung kam. Und die Statistiken sind wirklich gut. Darum gibt es sie auch hier. Sorgfältig dosiert.
- 75’784 Fans im Stadion sind australischer Frauenfussballrekord. Gleich bei drei Spielen wurde diese Marke erreicht, bei einigen Partien gab es Kapazitätsengpässe und insgesamt besuchten
- 1’977’824 Leute die 64 WM-Spiele.
- 7.2 Millionen Einschaltungen beim Viertelfinal Australien – Frankreich waren der erste Höhepunkt auf dem Sender Channel 7 gewesen.
- 7.13 Millionen Zuschauer waren durchschnittlich auf Channel 7 während des Halbfinals Australien – England.
- 11.15 Millionen Leute erreichte der Sender bei diesem Spiel im ganzen Land. Es ist der höchste Wert seit Beginn der Auswertung von TV-Quoten, also das meistgeschaute Fernsehprogramm in ganz Australien seit 2001. Und in weniger als einer Woche brachen die Matildas einen zweiten TV-Rekord.
- 200 Millionen Dollar will der australische Premierminister nun in den Frauensport investieren.
- 570 Millionen Dollar hat das Turnier generiert, während der Marktwert der Matildas voraussichtlich von 25 auf 135 Millionen Dollar ansteigen wird – das wertvollste australische Sportteam.
- 111 atemberaubende km/h schnell war der Elfmeter von Englands Chloe Kelly – ein kraftvolleres Geschoss als der Höchstwert in der Premier League der Männer in der Saison 2022/23.


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