Ein Murmeln links, ein Murmeln rechts. Im gut besetzten Sektor A klingt es nach Restaurantlärm. Doch die einzige Gemeinsamkeit der beiden Lokalitäten ist der stechende Geruch nach Fritteuse, Wurst und Bier. «Vo de Rhone bis zur Sitter, immer witer, immer witer!» Das Echo hallt einsam durch den Kybunpark, obwohl 500 Fans dem FC St. Gallen (FCSG) und dem FC Thun an diesem Mittwochabend zuschauen.
Links ist die Tribüne geschlossen, rechts auch und auf der Gegenseite sowieso. Der kaum sichtbare Nieselregen vermag nicht zu verstecken, wie sich das Heimteam abmüht. Zur Pause liegt es mit einem Tor hinten. St. Gallen ist, sinnbildlich wie der Schweizer Frauenfussball, im Rückstand.

An der EM kam der Ball ins Rollen
Noch vor Kurzem sah das anders aus. St. Gallen geht in der siebten Minute durch Sina Cavelti in Führung, im Kybunpark herrscht Euphorie. Jubel, Klatschen, «Sanggalle»-Rufe. Es ist ein leichter Hauch dessen, was vor zwei Monaten in der Schweiz herrschte.
Damals, als ein rotes, 25’000-köpfiges Meer die Strassen Berns flutete, Zuschauerrekorde um ein Tausendfaches purzelten und sich die umtriebige Frage, ob denn der Funke überspringen würde, in Luft auflöste. Der Funke verwandelte sich in ein Lauffeuer, frass sich durchs Volk und der Schweizer Frauenfussball erlebte eine Hochkonjunktur. Oder wie es Anika Seliner ausdrückt: «Dass die Leute vom Frauenfussball begeistert sein können, wurde klar gezeigt.»
Seliner, die seit dieser Saison einen festen Platz bei den FCSG-Frauen hat, sitzt gegen Thun auch in der zweiten Hälfte vorerst auf der Bank. An der EM war die 18-jährige U-Nationalspielerin ein Fan inmitten des grossen und vor allem neuen Publikums. Früher dominierten Frauen aller Altersklassen und Familien die Ränge. Diese EM besuchten zunehmend Männer, viele davon jung.
In der Liga rollt der Ball langsamer
Die Europameisterschaft 2025 ist eine Zäsur im hiesigen Frauenfussball, man spricht von «vorher» und «nachher». Die tatsächlichen Veränderungen vor Ort sind derzeit subtil. So zum Beispiel in der Klientel. Gegen Thun sind neben Frauen, Kindern und Nachwuchsspielerinnen, auf deren Jacken stolz das grün-weisse St. Gallen-Logo prangt, mehr Männer zugegen, als es «vorher» in der AXA Women’s Super League der Fall war.
Ein Mann mittleren Alters textet seiner Herzensdame via Natel, dass er spontan vom heutigen Spiel erfahren habe und daraufhin ins Stadion gegangen sei. Es folgt ein verwackeltes Foto seiner selbst im gestreiften FCSG-Schal. Die Bildunterschrift in Gleitsichtbrillen-XXL-Lettern ist selbst für seine Sitznachbarn gut lesbar. Die Fortschritte des Sports hingegen erkennt bloss das geschulte Auge, das soeben einen wegweisenden St. Galler Dreifachwechsel verfolgt.
65. Minute, auch Anika Seliner betritt das Feld. Die EM habe Hoffnungen ausgelöst, schildert Seliner nach dem Spiel. Aber wenn die kleingewachsene Zentrumsspielerin über den Rasen spurtet, spürt sie wenig Veränderung. Einzig beim Saisoneröffnungsspiel seien doppelt so viele Zuschauende gekommen. Doch das war im kleineren Espenmoos, neben dem Kybunpark und dem Bergholz in Wil eine von drei Spielstätten der FCSG-Frauen.

Dass das Team in verschiedenen Heimstadien spielt, hemmt den Zugang zum Sport. Aber das Saisonabonnement der Männerequipe gilt auch für jede Frauenpartie. Und nach der EM besucht das eingefleischte Espen-Gefolge, vereint durch die Liebe zum Club, auch ebendiese, «ihre» Espinnen, fachsimpelt und weiss Spielerinnennamen korrekt zu verorten.
«Das Gefühl, die Leute denken ‹Frauen können nicht tschutte›, hatte ich an der EM nie.»
Anika Seliner, Spielerin FC St. Gallen Frauen
Die «Ammann, Lia, glaube ich» sei «ja eine von uns», ertönt es stolz. Immerhin traf die St. Gallerin gerade zum Ausgleich. Der spielerische Aufschwung des FCSG kommt langsam, noch 20 Minuten sind zu spielen. Auch die Medien sprechen von einem Aufschwung im Frauenfussball. Im Kybunpark ist die Pressetribüne voll. Voll von Fans, die die Laptop-Pulte als Tisch benutzen und nach kurzem Jubel über das 2:2 den Blick wieder leise murmelnd auf den Ball richten.
Den Ball am Rollen halten
Veränderung und Fortschritt werden nicht innerhalb von zwei Monaten und an einem Ligaspiel unter der Woche sichtbar. Es geht um viel mehr. Nach dem neuen Anstoss durch die EM liegt die Verantwortung nun bei den Vereinen und den Fussballerinen selbst. «Keep moving» sei die Botschaft an die Spielerinnen gewesen, «bleibt am Ball». Viel umgestalten wolle man nicht, erzählt Seliner. Es gelte bloss, Präsenz und Sichtbarkeit zu behalten. Und zu pushen. «Es hat viel damit zu tun, gesehen zu werden.»
Da spielen auch Medien, Strukturen und Sponsoren eine Rolle. Mit guter Leistung kommen gute Möglichkeiten. Dies zeigte das Nationalteam im Juli – und will es an den nächsten Testspielen im Oktober bestätigen. St. Gallen zeigt es heute und setzt sich in Szene.
Der Abpfiff kommt näher, die Leistungskurve des Heimteams schiesst in den mittlerweile trockenen Nachthimmel empor und entlockt dem Publikum Raunen um Raunen. Das Aufbäumen der grün-weiss gekleideten Fussballerinnen zahlt sich aus. Fünf Minuten vor Schluss setzt Ammann nach einem Corner zum Fallrückzieher an und versenkt das Leder in hohem Bogen unter die Latte zum Siegtreffer.
Auf dem Feld fallen die im schwarzen Dress auf die Knie – und die im grünen sich in die Arme. Und auf den Rängen, da stehen sie. 500 Leute klatschen, jubeln, rufen «Sanggalle». Diesmal kommt kein Echo zurück, vielmehr ist der Kybunpark erfüllt von einem Hauch Magie. Plötzlich ist in jedem Gesicht die Fussball-Euphorie des Sommermärchens zu sehen. Und die Gesichter, zwar nicht tausendfach, aber nicht minder begeistert, sehen an jenem Abend, dass die Fussballerinnen definitiv am Ball sind. Anika Seliner drückt es simpel aus: «Wir zeigen den Leuten, dass wir ‹tschutten› können.»
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